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Bündnis für 100 % tragfähige Daseinsvorsorge

Die dramatische Lage der sozialen Infrastruktur beenden!

15.03.2023


Berlin braucht ein tragfähiges soziales und wirtschaftliches Netz der Daseinsvorsorge. Zu große Teile der notwendigen sozialen Infrastruktur wurden in den vergangenen Jahrzehnten finanziell, personell, digital nicht im erforderlichen Ausmaß ausgestattet oder eingeschränkt. Vielfach wurden sie privatisiert und damit den Gewinninteressen Einzelner verpflichtet statt dem Gemeinwohl.

 

Soziale Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Alterssicherung, Barrierefreiheit, Pflege, Mobilität, Wohnen und Bildung dürfen nicht wie herkömmliche Güter am Markt gehandelt werden und Gewinnerwartungen der Anteilseigner*innen befriedigen müssen. Vielmehr haben alle Menschen ein Recht auf diese Dienstleistungen und Güter im erforderlichem Ausmaß. Darüber hinaus sind durch die hohen Preissteigerungen für Güter des täglichen Lebens die Belastungsgrenzen vieler Menschen erreicht oder überschritten. Kleine Renten und niedrige Löhne können die höheren Kosten nicht mehr decken, schon gar nicht für Energie und stetig steigende Mieten.

 

Anlässlich der Berliner Wiederholungswahl und vor dem Hintergrund der multidimensionalen Krisen fragen wir uns: Was ist notwendig, um die sozialen Netze zu stabilisieren und tragfähig zu machen?

 

Wir sind ein Bündnis aus Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und dem Berliner Mieterverein und haben in den letzten Jahren den Berliner Sozialgipfel organisiert. Wir fordern vom zukünftigen Senat ein klares Bekenntnis zur Daseinsvorsorge. Denn wir schauen mit Sorge aus unseren unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Grenzen der Belastbarkeit der Berliner*innen – derer, die öffentliche und soziale Dienstleistungen erbringen sowie derer, die gerade auf diese Dienstleistungen zwingend angewiesen sind. Wir schauen aus der Perspektive der Mieter*innen, deren Wohnungen nach Profitinteressen bewirtschaftet werden oder die keine bezahlbare Wohnung mehr finden. Wir sehen die Bedürfnisse derjenigen, die auf öffentliche Versorgung jeglicher Art angewiesen sind, wie Barrierefreiheit, Unterstützung bei Behinderungen, Alterssicherung, Sozialhilfe, bezahlbare Pflege, Gesundheitsversorgung stationär und ambulant, Renten, Arbeitslosenunterstützung. Wir haben zusätzlich auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im sozialen Sektor im Blick und vor allem ihre kontinuierlich steigenden Belastungen.

 

Warten auf freiwillige Angebote aus der Privatwirtschaft wird keine nachhaltige moderne Daseinsvorsorge schaffen.

 

Im Gegenteil: Berlin braucht den klaren politischen Willen, um den gemeinwohlorientierten Sektor auszubauen und zukunftsfähig zu machen. Der soziale Zusammenhalt ist durch die Marktentwicklungen in Gefahr, denn schwache Infrastruktur und Lohndumping durch outgesourcte Dienstleistungen selbst bei öffentlichen Unternehmen bieten keinen Schutz für bedürftige Menschen.

 

Wir fordern von der künftigen Regierung:

 

I. Wie können die Verwaltungen, die sozialen und gesellschaftlichen Träger darin gestärkt werden, die Krise zu bewältigen?

  1. Berlin muss gemeinsam mit der engagierten Zivilgesellschaft und sozialen Trägern die Bereiche der Daseinsvorsorge definieren und klare Zielzahlen und entsprechende Pläne entwickeln.
  2. Bereiche der Daseinsvorsorge gehören nicht auf den Markt, d. h. nicht gemeinwohlorientierte Träger müssen klar reguliert sein.
  3. Der Grundsatz „Arbeit im Auftrag von Land und Bezirken ausschließlich als Gute Arbeit“ muss umgesetzt werden, u. a. durch Rekommunalisierung der Schulreinigung und Umstellung der Unterhaltsreinigung auf Tagesreinigung, Tarifierung aller öffentlichen Betriebe und Verwaltungen.
  4. Gute Löhne stärken die Menschen in den Sozialen Netzen, wie in der Gesundheitsversorgung, der Pflege, bei sozialen Trägern, bei Bezirksämtern. Tariflöhne bei freien Trägern müssen refinanziert werden, hierzu zählen auch Kosten für freigestellte Betriebsräte und steigende Betriebskosten.
  5. Bessere finanzielle, digitale und personelle Ausstattung der Verwaltung für die Bearbeitung der Anliegen der Hilfesuchenden sowie der Sozialwirtschaft.
  6. Mehr Mitbestimmung des Personals über Strategie und Investitionen für die Zukunft. Klar definierte Schnittstellen zwischen öffentlicher Verwaltung und Trägern sowie Digitalisierung und Datenzugriff bei ausreichendem Datenschutz für die Bürger*innen und Arbeitsentlastung für die Beschäftigten.

II. Wie können die Menschen gestärkt werden?

  1. Energiekosten und Mieten dürfen nicht die Einkommen und Renten der Menschen auffressen.
  2. Es braucht Lohnerhöhungen statt Mieterhöhungen. Das Land Berlin muss klar die Erwartung formulieren, dass bei allen Auftragnehmern und Zuwendungsempfängern tarifliche Standards eingehalten werden, und diese auch ausfinanzieren sowie deren Einhaltung überwachen.
  3. Die Bruttokaltmiete darf nicht mehr als ein Drittel des Haushaltseinkommens betragen. 
  4. Wuchermieten, Verstöße gegen die Mietpreisbremse, Leerstand und andere Zweckentfremdungen von Wohnraum müssen besser verfolgt und verhindert werden.

III. Wie kann der soziale Zusammenhalt gestärkt werden?

  1. Soziale Dienstleistungen in den Bereichen Pflege, Behindertenpolitik, Altersvorsorge, Wohnung, Gesundheit, Mobilität und Bildung müssen aufgewertet werden durch gute Ausstattung und Gehälter. 
  2. Dabei muss endlich die Lohnlücke zwischen männlichen und weiblichen Beschäftigten sowie zwischen Ost und West-Tarifen geschlossen werden. Gleiches gilt für die Anpassung der Ost- und Westrenten.
  3. Krisengewinne müssen abgeschöpft und in Investitionen in den gemeinwohlorientierten Sektor umverteilt werden.
  4. Gerechtigkeit wird sichtbar, wenn öffentliche Zuschüsse an private Unternehmen mit klaren Vorgaben verbunden werden, z. B. Beschränkung von Gewinnausschüttungen und Bonuszahlungen, Tarifbindung, Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben sowie Beschäftigungssicherung.
  5. Verdrängung von Bürger*innen aus lokalen Wohnbereichen (Gentrifizierung) verhindern durch die Förderung von gemeinwohlorientierten WohnungsmarktAkteuren in immer mehr Quartieren.
  6. Das lokale, inklusive und ehrenamtliche Engagement in Form von Kiezbeiräten, Mieterinitiativen, Interessenvertretungen, Angeboten der Nachbarschaftsarbeit und Kulturangeboten muss sowohl in der Gesetzgebung als auch in der gelebten Praxis der Verwaltung einen festen Platz haben. Nur dadurch können in wichtigen Fragen der Daseinsvorsorge für alle beteiligten Parteien zufriedenstellende Lösungen gefunden werden, die nicht an den Interessen der Bürger*innen vorbei beschlossen werden.

IV. Wie kann der gemeinwohlorientierte Sektor im Wohnungswesen, Gesundheitswesen und in der Energieversorgung gestärkt werden?

  1. Daseinsvorsorge und öffentliche Güter gehören in die Entscheidungsbefugnisse von gemeinnützigen und öffentlichen Trägern. Gewinninteressen sind hier fehl am Platz.
  2. Die Rolle der pharmazeutischen Industrie der Stadt ist zu überdenken, weil ihre Produkte öffentliche Güter sind, über deren Herstellung und Einsatz nicht allein marktwirtschaftliche Prinzipien entscheiden dürfen. Hier muss der Staat durch Setzung von Rahmenbedingungen eine Balance organisieren zwischen dem einzelwirtschaftlichen Profitinteresse des pharmazeutischen Unternehmers und der Zusage des Gesundheitssystems, dass jede*r Patient*in Anspruch hat auf bestmögliche medizinische Versorgung.
  3. Um die Wohnraumversorgung zu gewährleisten, muss Berlin den gemeinwohlorientierten Wohnungssektor (Genossenschaften und landeseigene Wohnungsunternehmen) fördern, indem es die Möglichkeiten zur Rekommunalisierung und Vergesellschaftung von Wohnraum prüft und die Wohngemeinnützigkeit umsetzt, sobald sie im Bund beschlossen ist.
  4. Berlin braucht ein Landesamt für Wohnungswesen mit ausreichender finanzieller, personeller und digitaler Ausstattung.
  5. Die Rekommunalisierung der Energieversorgung ist weiter voranzutreiben.
  6. Das Gesundheitswesen ist grundlegend zu reformieren: An Stelle der zunehmenden Kommerzialisierung und Orientierung an Renditen muss die Gesundheitsversorgung der Patient*innen im Vordergrund stehen. Erforderlich dazu sind: ein besserer Personalschlüssel, höhere Löhne und humane Arbeitsbedingungen. Berlin muss sich konstruktiv an der von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angestoßenen Krankenhausreform beteiligen Dazu bedarf es der Weiterentwicklung des Systems der Fallpauschalen zu einer Finanzierung, die sich an Versorgungsbedarfen und nicht an umsatzbezogenen Kennzahlen orientiert. Berlin muss wie die anderen Bundesländer endlich seinen Verpflichtungen nachkommen, die Investitionskosten in den Krankenhäusern vollständig zu refinanzieren und damit die sachwidrige Belastung der Personalkosten zu beenden.
  7. Auch die zunehmenden Pflegeleistungen in einer alternden Gesellschaft bedürfen einer grundsätzlichen Reform. Berlin muss sich an den erforderlichen Maßnahmen auf Bundesebene zur Verbesserung der Qualität der Pflege sowie Entlastung der zu pflegenden Menschen und ihrer Pflegepersonen konstruktiv beteiligen. Pflege darf nicht länger ein zunehmendes Armutsrisiko für die Betroffenen bleiben. Vom Land Berlin sind zusätzliche Beiträge zu leisten. Dazu gehört maßgeblich die Ausbildung der Pflegepersonen. Dabei muss die Belastung der Pflegeheimbewohner mit den Ausbildungskosten umgehend beendet werden.
  8. Erforderlich ist ein guter öffentlicher Nahverkehr, der bezahlbare und barrierefreie Mobilität für alle bietet. Ergänzend zum voraussichtlich am 1. Mai startenden bundesweiten 49-Euro-Deutschlandticket sind dauerhaft reduzierte lokale Preisangebote notwendig. Dazu gehören für Berlin das 29-Euro-Ticket und das 9- Euro-Sozialticket. Gleichzeitig müssen die Verkehrsangebote ausgebaut und die Investitionen in Fahrzeuge, Infrastruktur und Personal erheblich erhöht werden.
  9. Die S-Bahn Berlin darf nicht zerschlagen und privatisiert werden. Eine Vergabe auf mehrere Lose für unterschiedliche Strecken und getrennt für Betrieb und Instandhaltung lehnen wir ab. Zusätzliche Schnittstellen sorgen nicht für einen stabileren Betrieb und verhindern die Mobilität und damit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Berliner*innen. Durch unterschiedliche Unternehmen im Zugbetrieb und der Instandhaltung droht ein Abstimmungschaos zum Nachteil der Fahrgäste.

Berlin, 15. März 2023 


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